Der folgende Beitrag wurde von der Gießener Allgemeinen, bzw. dem Gießener Anzeiger in zwei Artikeln aufgegriffen, die hier nachzulesen sind:
Gießener Allgemeine vom 28.04.20: „Kein Impfstoff gegen Klimakrise“ von Burkhard Möller.
Gießener Anzeiger vom 13.05.20: „Koordinationskreis von „Gießen 2035Null“ erwartet Schub für die Stadt“ von Stephan Scholz.
Corona und die Klimakrise
Wir alle stehen aktuell unter dem Eindruck einer tiefgreifenden Krise, die in dieser Ausprägung und zu diesem Zeitpunkt wohl niemand vorhergesehen hat. Die ökonomischen Aufwände zur Bewältigung dieser Krise weltweit sind immens und noch nicht annähernd zu bemessen, die temporären Einschränkungen unserer Bürgerrechte waren bis vor Kurzem unvorstellbar.
Und natürlich werden jetzt – wenig überraschend – Stimmen laut, die dafür plädieren die Klimaschutzbemühungen zurückzufahren, weil sie in der aktuellen Krise nicht mehr finanzierbar seien, und die sich darüber freuen, dass Bewegungen wie Fridays for Future (vermeintlich) an Kraft und Momentum verloren haben. Der Online-Protest #fighteverycrisis und die entsprechende Aktion am 24.4. vor dem Reichstag haben das Gegenteil bewiesen.
Dabei ist die aktuelle Krise doch – bei allen Unterschieden, die es in den Ursachen und den konkreten Auswirkungen geben mag – nur ein Vorbote einer potenziell noch viel schlimmeren Krise, auf die wir seit Jahrzehnten mehr oder weniger ungebremst zurasen.
Wer die Medien verfolgt, kann jeden Tag Meldungen lesen, die einen schaudern lassen ob ihrer Tragweite. Der nächste Dürresommer für Deutschland wird prognostiziert – im März hat es gerade einmal 5 % der üblichen Menge geregnet. Amerikanische Wissenschaftler erwarten für den Westen des Landes gar die schlimmste Dürre seit 1.200 Jahren. Neueste Klimamodelle lassen jegliche Hoffnung zerbrechen, dass das Eisschild von Grönland noch zu retten ist. Die FAZ veröffentlicht Studien, nach denen bereits jetzt eine Erwärmung von 1,5° in Mitteldeutschland erreicht sei! Und so weiter und so fort.
Wir, d. h. vor allem der wohlhabende Teil der Welt-Gesellschaft, haben seit Jahrzehnten über unsere Verhältnisse gelebt und mehr Ressourcen verbraucht, mehr Treibhausgase emittiert, als die Erde bereitstellen bzw. kompensieren kann. Jetzt tritt Schritt für Schritt das ein, wovor uns die Klimawissenschaftler bereits seit den 70er und 80er Jahren warnen. Verdrängung funktioniert nun nicht mehr, da wir alle bereits die Folgen spüren.
Der unterschiedliche Umgang mit Corona in den verschiedenen Ländern führt uns vor Augen, welchen Unterschied es macht und wie viele Leben gerettet werden können, wenn auf die Wissenschaft gehört und frühzeitig Maßnahmen gegen eine Bedrohungslage ergriffen werden. All das, wofür die Bundesregierung laut aktuellen Umfragen von einer großen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler gelobt wird, nämlich das unmittelbare Umsetzen von allen notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, egal wie hart oder kostspielig sie auch sein mögen, fehlt bisher in Bezug auf den Klimaschutz weitestgehend.
Es ist unser aller Verantwortung, aber insbesondere die Verantwortung der Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft, diese einschneidenden Maßnahmen jetzt auch im Klimaschutz zu ergreifen. Die Klimakrise bedroht uns nicht erst in einer fernen Zukunft – wir sind schon mittendrin!
Bei allen Parallelen, die wir zwischen der Corona-Krise und der Klimakrise erkennen können, muss ein wesentlicher Unterschied hervorgehoben werden: Während es bei der Corona-Krise – wann und wodurch auch immer – ein „Danach“ und ein neues „Normal“ geben wird, gibt es das in der Klimakrise nicht. Ein Kollaps des Weltklimas wäre irreversibel und würde die Grundlagen der menschlichen Existenz dauerhaft zerstören.
Gießener Klimaneutralität
Und das führt uns direkt zur Klimaneutralitätsverpflichtung Gießens bis 2035. Auch wenn die mehrheitliche Entscheidung des Stadtparlaments im September 2019 vielfach öffentlich begrüßt wurde, wurde sie hinter vorgehaltener Hand relativiert: „Das Ziel ist ja ganz nett, aber wir schaffen das doch sowieso nicht! Und überhaupt muss erstmal Berlin was machen.“
Diese Haltung ist nicht akzeptabel und nicht zu rechtfertigen. Stattdessen müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um den erforderlichen grundlegenden Wandel auch in Gießen und aus Gießen heraus, voranzutreiben. In der Energieversorgung, der Stadtplanung und insbesondere in der Verkehrsplanung kann die Stadt sehr wohl viel aus eigener Kraft bewegen – wenn sie denn nur will.
Ein Gießen, das bis 2035 klimaneutral ist, ist ein in weiten Teilen anderes Gießen als die Stadt, die wir bis 2019 gekannt haben. Wenn wir den Wandel entsprechend gestalten, wird Gießen eine Stadt mit mehr Lebensqualität:
- saubere und gesunde, statt mit Feinstaub und Stickoxiden belastete Luft, die uns anfälliger für Lungenkrankheiten wie Corona macht
- weniger Lärm und Gefahren durch den motorisierten Individual-Verkehr
- mehr Grünflächen, die die Stadt kühlen, verschönern und zum Verweilen einladen
- eine gestärkte Stadtgesellschaft, die ihr Zusammenleben aktiv mitgestaltet und sich noch viel stärker mit ihrer Stadt identifiziert
- eine zukunftsorientierte Wirtschaft, die langfristig Arbeitsplätze sichert in Branchen, die klimagerecht wirken
- eine Stadt, die ein deutlich besseres Image hat als bisher
Für diese Zukunft müssen wir nun aber die richtigen Weichen stellen:
- In Neubaugebieten dürfen ausschließlich klimaneutrale oder gar klimapositive Gebäude gebaut und auch der Gebäudebestand muss entsprechend nachgerüstet werden. Dazu bedarf es auch Investoren, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und ihre Grundstücke unter Berücksichtigung des Klimaneutralitätsbeschlusses entwickeln.
- Für eine nachhaltige Verkehrswende muss der Umweltverbund aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr massiv bevorzugt werden. Ohne eine Straßenbahn wird dies nicht erreichbar sein. Ein weiterer Ausbau der Straßen für den Autoverkehr ist nicht zielführend – die vierspurige Planung der Adenauerbrücke für den Pkw-Verkehr ist ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert, das in einem 2035Null-Gießen keinen Sinn ergibt.
- Die Energiepolitik muss konsequent in Richtung regenerativer Energien vorangebracht werden – ein sog. Grünstrom der Stadtwerke, der nicht aus nachhaltigen Quellen stammt, ist inakzeptabel. Die SWG müssen kurzfristig ihren Bezug von Kohlestrom vollständig einstellen und gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern in die Produktion von erneuerbarem Strom und Wärme einsteigen. Viele in der Gießener Bevölkerung warten auf entsprechende Signale und Beteiligungsmöglichkeiten!
- Die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln aus der Region muss mit innovativen Konzepten (wie z. B. urban farming, solidarische Landwirtschaft, food sharing) deutlich verstärkt werden. Die Stadt sollte entsprechende Flächen und Fördermittel zur Verfügung stellen.
- Gießen muss zu einem attraktiven Standort für „grüne Unternehmen“ werden. Betriebsansiedlungen, die das Klimaneutralitätsziel konterkarieren, dürfen nicht mehr unterstützt werden.
- Die Potentiale der Digitalisierung durch die Vernetzung von Informationen müssen auch in Gießen viel stärker als bisher genutzt werden (Smart City), ohne dabei die Erfordernisse des Datenschutzes und der Privatsphäre zu vernachlässigen.
Natürlich sprechen wir hier von einer Herkulesaufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Aber klar ist auch: Die Konsequenz aus der aktuellen Situation kann und darf nicht lauten, dass wir uns Klimaschutz nicht leisten können, sondern dass wir uns keinen Klimaschutz nicht leisten können! Und wir erleben doch gerade, zu was diese Gesellschaft im Stande ist, wenn die Bedrohung in ihrer ganzen Dimension erst einmal klar erkannt wird.
Einen Virus kann man abwaschen, die Klimakrise nicht. Oder anders formuliert: Gegen einen Virus kann und wird man einen Impfstoff entwickeln, gegen die Klimakrise gibt es diese Lösung nicht.
Autoren: Lutz Hiestermann (Lebenswertes Gießen e. V. ), Gerhard Keller (Extinction Rebellion), Johannes Rippl (Arbeitsgruppe Solarenergie von 2035Null); abgestimmt im Koordinationskreis 2035Null