Offener Brief an die Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen

Eigentlich hätten am 28. April die Ergebnisse der internen Arbeitsgruppen der Stadt Gießen zur Klimaneutralitätsverpflichtung veröffentlicht werden sollen. Am 29. April erhielten wir nach Anfrage zum Sachstand einen Brief der Oberbürgermeisterin Frau Grabe-Bolz, der uns über eine Verschiebung dieser Präsentation auf voraussichtich September informierte. Dieser Brief kann hier nachgelesen werden. Im Folgenden lesen Sie unsere Antwort dazu in Form eines offenen Briefes an Frau Grabe-Bolz: 

Offener Brief als Antwort auf Ihr Schreiben vom 29. April 2020

Sehr geehrte Frau Grabe-Bolz, 
 
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 29. April 2020, auf das wir in Abstimmung mit dem Koordinationskreis des Bündnisses 2035Null antworten. 


Zunächst einmal möchten wir unserer Verwunderung Ausdruck verleihen, dass Sie uns dieses Schreiben erst geschickt haben, nachdem wir den Hessischen Rundfunk auf Ihr Versprechen aufmerksam gemacht hatten, am 28. April die Ergebnisse der internen Arbeitsgruppen zur Klimaneutralitätsverpflichtung öffentlich vorzustellen. Es wäre unseres Erachtens zwingend geboten und ein Akt des normalen Umgangs miteinander gewesen, uns als Empfänger dieses Versprechens mit ausreichendem zeitlichem Vorlauf davon in Kenntnis zu setzen. 


Paul Watzlawick hat mit seinem berühmten Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ beschrieben, wie beredt auch Schweigen oder Nicht-Kommunikation sein kann. Dass es niemand im Magistrat für nötig erachtet hat, die Initiatoren und Protagonisten des ersten Gießener Bürgerantrags über eine massive zeitliche Verschiebung zu informieren (geschweige denn, diese zu begründen), spricht eine sehr laute und deutliche Sprache. In dieses Bild passt, dass auch Frau Eibelshäuser sich weder an ihr Versprechen vom 12. Februar hält, unserem AK Solarenergie Daten für eine beispielhafte Wirtschaftlichkeitsberechnung von Fotovoltaikanlagen auf Schuldächern zur Verfügung zu stellen, noch auf entsprechende Nachfragen dazu reagiert. 


Im Klimabündnis arbeiten aktuell mehr als 15 Gruppen aus der Gießener Stadtgesellschaft und diverse Einzelpersonen mit – vom Stadtschülerrat über Pfarrerinnen und Pfarrer bis hin zu Kulturschaffenden und diversen Umweltorganisationen. Viele von uns geben einen großen Teil ihrer Freizeit auf, um das Ziel der Klimaneutralität für die Stadt erreichbar zu machen. Warum die Stadtregierung dieses Engagement nicht wertschätzt – wo doch Bürgerbeteiligung und Transparenz erklärte Ziele gerade auch von Ihnen persönlich, Frau Grabe-Bolz, sind – ist für uns nicht zu verstehen.

Sie erwarten in Ihrem Schreiben von uns Verständnis für die Verschiebung der von Ihnen im Namen des Magistrats zugesagten Präsentation um 5 Monate. Dieses Verständnis haben wir eindeutig nicht. Wir alle können uns vorstellen, dass die Corona-Krise zu Kapazitätsengpässen und erhöhtem Koordinationsbedarf geführt haben mag. Eine kurzzeitige Verschiebung hätten wir dementsprechend auch nicht kritisiert. Eine Vergeudung von 5 Monaten ist im Hinblick auf die Größe der Herausforderung in keinster Weise akzeptabel und stößt auf unsere schärfste Kritik. Wie in der Corona-Krise kämpft die Menschheit beim Klimawandel vor allem auch gegen die Zeit. Wie Sie selbst bereits öffentlich gesagt haben, ist der Großteil der inhaltlichen Arbeit bereits erfolgt, immerhin sind seit dem Beschluss bereits über 7 Monate vergangen. Nun auf eine vermeintliche Unmöglichkeit zu verweisen, im AK Bürgerbeteiligung Ende März und in der Lenkungsgruppe Anfang April die Absprachen zu treffen, ist wenig plausibel. Auch wir sind in Corona-Zeiten beruflich tätig und nutzen Video- oder Telefonkonferenzen, um Projekte bzw. Prozesse am Laufen zu halten. Der Austausch über Videokonferenzen sollte in einer Universitätsstadt auch für einen Kreis von neun oder zehn Personen kein Ding der Unmöglichkeit sein. Auch persönlich hätte ein Treffen z. B. im Parlament mit völlig ausreichendem Abstand durchgeführt werden können, ohne eine Corona-Vorgabe der Landes- bzw. Bundesregierung zu verletzen. Dass dies auch in Gießen möglich ist, beweist die Einladung zum Treffen der Agenda-Sprecher am vergangenen Montag. 


Lassen Sie es uns noch einmal klar benennen – für uns und für viele Gießenerinnen und Gießener ist der Beschluss 2035Null ein Wendepunkt in der Gießener Geschichte. Es geht nicht um kosmetische Veränderungen, sondern um einen grundlegenden Wandel auf vielen Ebenen der Entwicklung unserer Stadt. Dies bedeutet auch, dass Rezepte oder Herangehensweisen der Vergangenheit nur dann Bestand haben können, wenn sie dem Ziel der Klimaneutralität dienen. Dieser bevorstehende grundlegende Wandel in Gießen hat mindestens zwei Voraussetzungen: Kommunikationsfähigkeit und ernsthafte Veränderungsbereitschaft. 


Wir haben die erste Voraussetzung durch unsere Einladung an Sie Anfang März und das Treffen mit rund 20 Organisationen und Einzelpersonen unter Beweis gestellt und Ihnen „die Hand gereicht“, obwohl es bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kontaktaufnahme von Magistrat und/oder Koalition gegeben hatte. Des Weiteren haben wir Ihnen in der Sondersitzung des AK Bürgerbeteiligung am 10. März z. B. angeboten, die Stadt aus den Reihen von 2035Null zu unterstützen, wenn sie in die Stadtteile gehen sollte, um die Gießenerinnen und Gießener über das Ziel der Klimaneutralität vor Ort zu informieren. Wir kommen nicht umhin, Ihre Nicht-Kommunikation sowie die von Frau Eibelshäuser als ein Ausschlagen dieser Hand zu interpretieren. 


Auch die Antworten des Magistrats auf die im Vorfeld der letzten Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses am 3. Mai gestellten Fragen haben unsere Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Bemühungen des Magistrats zur Erreichung der Klimaneutralitätsverpflichtung verstärkt. Jede einzelne Antwort hätte vor dem Beschluss 2035Null identisch formuliert werden können – kein Halbsatz, in dem deutlich würde, dass die Verantwortlichen ernsthaft zu Veränderungen bereit sind.

 
Der mehr oder weniger beiläufig erwähnte Verzicht auf eine Klimaneutralitätssatzung mit einer sehr dünnen Begründung lässt uns fassungslos zurück. Dass es sich hierbei um eine Kernforderung des Bürgerantrags handelt, wissen alle Beteiligten in Politik und Verwaltung. Auch hier hat sich niemand die Mühe gemacht, diese – die eigentliche Intention des Antrags konterkarierende – rechtliche Auslegung proaktiv gegenüber dem Klimabündnis zu kommunizieren. Stattdessen wurde nur auf eine Rückfrage im Treffen am 6. März 2020 reagiert. Diese Ablehnung einer Satzung oder eines gleichrangigen rechtlichen Instruments hätte gegenüber den Initiatoren des Bürgerantrags, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit zwingend vor der Abstimmung am 26. September 2019 kommuniziert werden müssen, zumal dies von Parteivertretern bereits frühzeitig inoffiziell artikuliert wurde. Dies alles lässt sich nicht ansatzweise unter Bürgerbeteiligung oder Transparenz subsumieren. 


Auch Stadtwerke-Vorstand Matthias Funk nutzte seinen Vortrag zum Energiebericht am 3. Mai nicht dazu, die dringende Notwendigkeit des Wandels auch aus seiner Sicht zu artikulieren und bei den Stadtverordneten dafür zu werben. Stattdessen präsentierte er falsche Vergleiche, z. B. der Gießener Pro-Kopf-Emissionen mit Marburg oder mit dem Bundesdurchschnitt, sowie auf ungenauen Gießener Bevölkerungszahlen beruhende Längsschnittvergleiche, um zu vermitteln, wie weit Gießen doch schon gekommen sei. Und dass die „Schuld“ für den z. B. im Vergleich zu Marburg sehr hohen Kohlestromanteil im Gießener Strommix auf die gewerblichen SWG-Kunden verlagert wird, ist ein sehr bemerkenswertes (oder besser verstörendes) Verständnis von unternehmerischer Verantwortung eines stadteigenen Betriebes, der den bevorstehenden Wandel in Richtung einer klimaneutralen Stadt in vorderster Front mitgestalten soll. All dies rundet für uns das desillusionierende Bild ab, das Magistrat und Verantwortungsträger in Sachen Klimaschutz abgeben. 


Es fällt den im Bündnis 2035Null organisierten Gruppen und Einzelpersonen schwer, aus diesen aufgezeigten Ereignissen und Entwicklungen eine Basis für eine gedeihliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu erkennen. In den nächsten Wochen wird deutlich werden, ob die inhaltliche Arbeit unseres Bündnisses gemeinsam mit der Stadt vorangetrieben werden kann oder nicht. Die bei uns angekommenen Botschaften der letzten Wochen lassen uns sehr pessimistisch und ernüchtert zurück. 


Wir brauchen daher kurzfristig starke Signale des Magistrats: Die Vorbereitung zur Einrichtung eines Reallabors gemeinsam mit den Hochschulen, der Wirtschaft und der Bürgerschaft wäre ein solches. Ebenso ein Antrag des Magistrats, künftig bei allen Beschlussvorlagen des Stadtparlaments zu dokumentieren, ob die zu treffende Entscheidung dem Ziel der Klimaneutralität förderlich ist, ob es neutral ist oder dieses Ziel konterkariert (wie es z. B. in Konstanz schon längst üblich ist!). 


Das stärkste Signal wäre allerdings, wenn Sie unsere klare Erwartung dahingehend erfüllen würden, die Ergebnisse der verwaltungsinternen Arbeitsgruppen sowie der eingeholten externen Ausarbeitungen (z. B. erste Erkenntnisse im Rahmen des Analyseszenarios der Klima- und Energieeffizienzagentur Kassel) bis 10. Juni der Öffentlichkeit vorzustellen, damit wir endlich die konkrete Vorstellung der Stadt kennenlernen, wie wir das Ziel einer Klimaneutralität bis zum Jahr 2035 gemeinsam erreichen können. 


Wir sind gespannt, welche Signale wir nun von Ihnen bekommen werden und haben die Hoffnung auf eine direkte Kommunikation auf Augenhöhe noch nicht vollständig aufgegeben.

 

——- Ende des im Koordinationskreises abgestimmten Teils ——-

 

Sehr geehrte Frau Grabe-Bolz, 


aus aktuellem Anlass greifen wir eine von Ihnen in der Gießener Allgemeinen vom 15.5.2020 zitierte und im Rahmen des Corona-Ausschusses getroffene Aussage auf und fordern Sie auf, diese öffentlich klarzustellen. 
Da wir nicht noch eine – organisatorisch und zeitlich aufwändige – Abstimmungsrunde im Koordinationskreis mit rund 40 Organisationen und Personen drehen wollten, wird diese Ergänzung nur von den Unterzeichnenden geschrieben. 


Sofern Sie von der Allgemeinen richtig zitiert wurden, haben Sie in der o. g. Sitzung eine vom Stadtparlament beschlossene Klimaschutzsatzung mit der Begründung abgelehnt, dass es „für eine verbindliche Festlegung des Ziels der Klimaneutralität 2035 »für alle Bürger« nämlich an einer Rechtsgrundlage fehle“. 
Hierzu stellen wir Folgendes fest: Ihre Aussage unterstellt, dass in dem Ziel der Klimaneutralität der Kampagne 2035Null der private Konsum (und mit „für alle Bürger“ kann wohl kaum etwas anderes gemeint sein) einbezogen sei. 
Dies ist jedoch nicht der Fall. Wie Sie sicher wissen, sind die einzigen Zahlen, die es zu den Treibhausgasemissionen Gießens gibt, die im Energiebericht 2018 der SWG veröffentlichten Werte, die nach dem BISKO-Standard erhoben wurden bzw. werden. Wie Sie sicher ebenso wissen, hat sich die Kampagne 2035Null in der Forderung nach Klimaneutralität immer nur auf diese Zahlen bezogen. Und wie Sie sicher drittens wissen, bilanziert die BISKO-Systematik nach dem Territorialprinzip. D. h. die mit dem privaten Konsum, mit privaten Reisen etc. verbundenen Emissionen sind in der BISKO-Zahl für Gießen nicht enthalten. 
Ihre in der Allgemeinen zitierte Aussage unterstellt jedoch, dass der private Konsum enthalten sei. Da damit sowohl Ihre rechtliche Begründung falsch ist, als auch gegenüber der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck über die Ziele unserer Kampagne bzw. des Bürgerantrags erzeugt wird, fordern wir Sie hiermit auf, diese Fehlinformation öffentlich richtigzustellen. Wir sind der festen Überzeugung, dass Akkuratesse in dieser für Gießen so wichtigen Angelegenheit auch in Ihrem Sinne ist. 
 
Mit freundlichen Grüßen 
  
Lutz Hiestermann (Lebenswertes Gießen e. V.), Gerhard Keller (Extinction Rebellion Gießen), Sabine Wolters (BUND Kreisverband Gießen), Johannes Rippl (AK Solarenergie)